Der amerikanische Luftkrieg ist schmutziger als gedacht Obama bezeichnete den amerikanischen Luftkrieg in Syrien und im Irak einst als "den präzisesten der Geschichte". Neue Enthüllungen zeigen nun aber: Die Zahl der toten Zivilisten dürfte weit höher sein als angenommen. Und kaum jemand wird zur Rechenschaft gezogen.

Christian Weisflog, Washington 01.01.2022, 05.30 Uhr

Kämpfer der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte überblicken das zerstörte Baghuz im Februar 2019. In der Offensive gegen den IS bombardierten Kampfjets wenig später eine grosse Gruppe von Frauen und Kindern.

Es ist kein Geheimnis, dass die USA in ihren Kriegen in Afghanistan und im Nahen Osten zunehmend aus der Luft agierten, um gleichzeitig ihre Präsenz und ihre Verluste am Boden zu minimieren. Dies galt vor allem für den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien und im Irak, bei dem Washington die risikoreichen Gefechte im Gelände weitgehend kurdischen Milizen überliess.

Erst jetzt machen indes umfangreiche Recherchen und Enthüllungen der "New York Times" deutlich, welchen Preis die Zivilbevölkerung für die amerikanische Kriegsführung bezahlen musste. Da die Offensive gegen den IS zunächst nur harzig verlief und die Kampfflugzeuge oft von ihren Einsätzen zurückkehrten, ohne ihre Waffen abgefeuert zu haben, änderten die USA 2016 ihre Taktik. Mussten die Luftangriffe zuvor durch hohe Generäle bewilligt werden, konnten dies nun auch untere Hierarchiestufen entscheiden und strengere Richtlinien umgehen, indem sie die Einsätze als "Selbstverteidigung" einstuften.

"Anstieg hat mich schockiert"

Als besonders problematisch erwies sich dabei ein Einsatzkommando mit dem Namen Talon Anvil. Durch dessen Vorgehen sei die Zahl ziviler Opfer bei Luftangriffen in Syrien zunehmend gestiegen, sagte Larry Lewis, ein ehemaliger Pentagon-Berater, der "New York Times". Der Anteil sei etwa zehn Mal so hoch wie bei ähnlichen Einsätzen in Afghanistan: "Er war viel höher, als ich von einer amerikanischen Einheit erwartet hätte. Die Tatsache, dass er über mehrere Jahre dramatisch und stetig anstieg, hat mich schockiert."

Einzelne Piloten sollen sich geweigert haben, ihre Bomben über Syrien abzuwerfen, weil Talon Anvil fragwürdige Ziele in dicht besiedelten Gebieten angreifen wollte. Am 18. März 2019 attackierten Kampfjets - gefilmt von einer Überwachungsdrohne - eine Gruppe unbewaffneter Zivilisten im ostsyrischen Dorf Baghuz. Dorthin hatten sich die letzten IS-Kämpfer und ihre Familien zurückgezogen. In der amerikanischen Kommandozentrale in Katar sorgten die Bilder für ungläubiges Staunen. "Wer hat dies abgeworfen?", fragte ein Analyst in einem Chat. "Wir haben gerade über fünfzig Frauen und Kindern abgeworfen."

Die Zahl der Toten wurde später auf rund siebzig geschätzt. Ein Rechtsoffizier ging von einem möglichen Kriegsverbrechen aus und forderte eine Untersuchung. Doch die zuständigen Stellen versuchten den Vorfall danach systematisch zu vertuschen. Erst nach einem Bericht der "New York Times" ordnete Verteidigungsminister Lloyd Austin eine neue Untersuchung an.

Viele Zivilisten, unter ihnen Familien von IS-Kämpfern, flüchteten vor den Gefechten in Baghuz.

Die Vertuschung ist offenbar kein Einzelfall, wie eine andere Recherche der amerikanischen Qualitätszeitung zeigt. Auf gerichtlichem Weg hat die "New York Times" vom Pentagon die Herausgabe von 1311 Gutachten zu möglichen zivilen Opfern bei einzelnen Luftangriffen in Syrien und im Irak zwischen 2014 und 2018 erstritten. Mit einer weiteren Klage soll auch die Aushändigung von über 1500 Gutachten zu Einsätzen in Afghanistan erreicht werden.

Die Dokumente zeigten, dass viele Kinder getötet worden seien, schreibt die "Times"-Journalistin Azmat Khan. "Aber nicht eine einzige Akte stellt ein Fehlverhalten fest oder verlangt disziplinarische Massnahmen." Nur in 216 Fällen bewerteten die Gutachter die Berichte über unschuldige Opfer als glaubwürdig, wobei lediglich in 12 Prozent dieser "glaubwürdigen Fälle" eine volle Untersuchung empfohlen worden sei. Ein Grund dafür dürfte eine mangelnde interne Gewaltentrennung sein: "Oft war das Kommando, welches den Luftangriff bewilligt hat, auch für dessen Überprüfung zuständig."

Kaum überraschend, führt das Militär die wenigen Untersuchungen oberflächlich durch. "Nur in zwei Fällen wurden Überlebende und Augenzeugen befragt." In weniger als einem Dutzend Fälle hätten die USA den Opfern und ihren Familien ein Schmerzensgeld bezahlt.

Die Pannen wiederholen sich

Um die Gutachten des Militärs zu analysieren, überprüfte die "New York Times" die Informationen in rund hundert Fällen vor Ort in Syrien und im Irak. Die Schilderungen der Menschen dort hätten oft in "starkem Kontrast" zu den Einschätzungen aus der Luft gestanden, schreibt Khan. Als Beispiel nennt sie etwa einen Angriff auf das nordsyrische Dorf Tokhar im Sommer 2016. Offiziell wurde der Tod von 85 bewaffneten Extremisten vermeldet. "Tatsächlich haben sie Häuser fernab der Front getroffen, wo Bauern und ihre Familien in der Nacht Zuflucht gesucht hatten. Über 120 Dorfbewohner wurden getötet."

In einem anderen Fall erwies sich eine vermeintliche Bombenfabrik des IS später als ein Verarbeitungsbetrieb für Baumwolle. Schuld an den fehlerhaften Informationen ist oft ein Hang der Verantwortlichen dazu, im Voraus getroffene Annahmen bestätigt zu sehen - ein sogenannter "confirmation bias". Aufgrund mangelnder Transparenz und Straflosigkeit lerne das Militär jedoch selten aus den Fehlern, resümiert Khan. Die gleichen Informationspannen wiederholten sich immer aufs Neue.

Gemäss offiziellen Angaben sind durch den Luftkrieg gegen den IS in Syrien und im Irak 1417 Zivilisten getötet worden. Wie gross die Zahl wirklich ist, lässt sich nur schwer schätzen. "Aber sie ist viel höher, als das Pentagon zugibt", glaubt die "New York Times". Es handle sich um Hunderte von toten Zivilisten, die nicht erfasst worden seien.

Der Aufschrei in der amerikanischen Öffentlichkeit über die brisanten Enthüllungen hält sich derweil in Grenzen. Dies dürfte allerdings auch daran liegen, dass die politische Führung das Problem der "endlosen Kriege" im Grunde erkannt und etwa mit dem kürzlichen Abzug aus Afghanistan die Konsequenzen gezogen hat. Andrerseits veranschaulicht es auch, warum Washington sein Heil in Luftkriegen suchte: Zivile Opfer in fremden Ländern sorgen für weniger Schlagzeilen als der Tod eigener Soldaten.

Schwarzer Rauch steigt im Sommer 2017 über Rakka auf, der damaligen Hauptstadt des "IS-Kalifats". Mit amerikanischer Unterstützung aus der Luft befreiten die von Kurden angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte die Stadt.

Quelle: NZZ